Bei meiner ersten Begegnung mit der Nessel, an die ich mich noch sehr lebhaft erinnere, hat sie als „Be(ziehungs)schützerin“ gewirkt und nicht nur ich habe mich dabei in die Nesseln gesetzt.
Hinter der Werkstatt meines Grossvaters gab es einen Komposthaufen und sehr viele Brennnesseln. Meine jüngere Cousine und ihr sieben Jahre älterer Bruder waren sich in die Haare geraten und ich setzte diesem Kräfte mässig ungleichen Gerangel ein Ende, indem ich ihnen einen Stoss versetzte und sie miteinander in die Nesseln flogen. Der Streit fand ein jähes Ende und die Beiden waren sich, schreiend vor Schmerz, schlagartig einig, dass ich eine „dumme Kuh“ sei.
Meist machen wir auf unliebsame Art Bekanntschaft mit dieser Pflanze. Für mich ist dieser Kosmopolit mittlerweile ein wertvoller pflanzlicher Begleiter fast übers ganze Jahr und an vielen Orten dieser Welt.
Die Urtica dioica, die Grosse Brennnessel, ist seit jeher eine Zauber- und Abwehrpflanze. Verbrannte man sie in der Sonnwendnacht im Stall, war das Vieh geschützt vor Hexen und Teufel.
Plinius erkannte, dass der Pflanzensaft ein wirkungsvolles „Mittel gegen Gifte und Brennen“ sei.
Und Caesars Truppen stellten aus den fasrigen Stängeln Taue und Gewebe her. Noch 1918 bezahlte die „Berliner Nesselanbaugesellschaft“ hohe Prämien auf Anbau und Ernte der Nezze – was im Germanischen soviel wie „Zwirn“ heisst. Die Fasergewinnung ist jedoch sehr aufwändig und heutzutage ist der Stoff nur noch als Nieschenprodukt zu finden.
In der Küche hat die Brennnessel seit jeher ihren festen Platz. Lange Zeit galt sie als nahrhafter Arme Leute Spinat und heute ist sie ein trendiger Mitspieler in der Wildkräuterküche.
„Urere“ heisst "brennen" und gibt der Urtica dioica ihren Namen. Die Grosse Brennnessel wird bis zu 1,5 Meter hoch, hat einen vierkantigen Stängel und ihre Blätter und der Stängel sind mit feinen Brennhaaren übersät, die wie perfekt konstruierte Injektionsnadeln ein brennendes Stoffgemisch unter die Haut spritzen.
Die Blütenrispen der männlichen Pflanze stehen waagrecht mit crèmeweissen, vierstrahligen Blütenknöspchen. Bei Reife und warmen Temperaturen öffnen sich diese explosionsartig und eine Staubwolke von bis zu 30'000 Blütenpollen pro Blüte wirbelt durch die Luft.
Die weiblichen Blüten sind kleiner, dunkelgrün mit winzig pinselartig behaarter Narbe und hängen in Rispen an den Stängeln. Sind die Blüten einmal befruchtet, reifen sie zu grünbraunen Nüsschen. Diesen Samen sagt man eine aphrodisierende Wirkung nach und eingelegt in Rotwein unter Kräuterkundigen als „Schwarzwald Viagra“ bekannt.
Neben der Bestäubung vermehrt sich die Nessel auch über Wurzelausläufer.
Durch die zunehmende Überdüngung hat sich die Brennnessel über die Jahrzehnte immer mehr ausgebreitet. Sie neutralisiert einen Stickstoff reichen und sauren Boden und reguliert diesen bei zu hohem Eisengehalt. Ein Fussballfeld voller Nesseln bindet mit ihrem hohen Chlorophyllanteil den CO2 Ausstoss von mehreren Autos mit einer Gesamtfahrleistung von 350’000km.
Den aus dem Boden gezogenen Stickstoff wird in der Pflanze zu Eiweiss-Verbindungen umgewandelt und somit bietet sich diese als gehaltvolle Futterpflanze für zahlreiche Raupen an. Schmetterlinge wie der Admiral, der kleine Fuchs und das Tagpfauenauge nutzen sie als Wirtspflanze. Eine wahre Klimaschützerin in unserem Ökosystem!
Als Heilpflanze wird die Brennnessel vorwiegend als stoffwechselförderndes Kraut bei „Frühjahrskuren“ eingesetzt. Sie wirkt harntreibend bei genügender Flüssigkeitszufuhr, Harnsäure abführend und zur allgemeinen Durchspülung bei entzündlichen Erkrankungen der ableitenden Harnwege und Hauterkrankungen.
Schon Hildegard von Bingen setzte sie als blutbildendes und stärkendes Heilkräutlein ein. Neueste Studien belegen, dass das pflanzlich gebundene Eisen eine aussergewöhnlich hohe Bioverfügbarkeit aufweist. Diese Messgrösse bezüglich Wirkstoff, in diesem Falle Eisen, besagt, dass dieses unverändert im Blutkreislauf zur Verfügung steht, quasi eine „pflanzliche Eisentransfusion“.
Und wie machen wir uns nun all diese wundervollen Wirkungsweisen zu Nutze? Für das allgemeine Wohlbefinden und als leichte unterstützende Massnahme bieten sich die unterschiedlichen Pflanzenteile als schmackhaftes Wildkräutergemüse oder in Form von Tee an. Sollen die Inhaltsstoffe einen therapeutischen Nutzen haben, findet man Tinkturen oder phytotherapeutische Präparate, die eine fachkundige Beratung erfordern.
So hemmt die Urtica beispielsweise die Produktion von Zytokinen. Diese körpereigenen Botenstoffe lösen entzündliche und knorpelzerstörende Prozesse aus, die zu rheumatischen Beschwerden, Gicht und Arthrosen mit Gelenksteifigkeit führen. Langzeitstudien haben gezeigt, dass der Schmerzmittelkonsum mit Hilfe einer gezielten Verabreichung eines Brennnesselpräparates gesenkt werden kann. Oder möchte sich jemand der „Urtikation“, einer traditionellen Radikalkur, unterziehen? Mit einem Brennesselstrauss wurden die schmerzenden Gelenke an drei Tagen in Folge geschlagen. Das Nesselgift aus Ameisensäure, Histaminen und Acetylcholin bewirkt eine erhöhte Durchblutung der Haut und der tieferen Organe und somit eine Anregung des Stoffwechsels und Abtransport der Schlacken und eine spürbare Schmerzverminderung.
Folgen wir dem Lauf der Jahreszeiten und wenden uns den unterschiedlichen Pflanzenteilen zu:
Junge, zarte Blätter sind ein ideales Wildgemüse oder ein harntreibender Tee für einen „Frühjahrsputz“, den Schlacken vom Winter den Garaus zu machen
Grössere Triebspitzen des teils blühenden Krautes wirken verstärkt entzündungshemmend bei rheumatischen Erkrankungen. Am besten vormittags bei trockenem Wetter pflücken
Brennnesselhaare enthalten Serotonin, ein „Glückshormon“, das in unserem zentralen Nervensystem für Stimmung sorgt: bewirkt Gelassenheit und Zufriedenheit, dämpft Angst, Aggressivität und Kummer. Und sind die Nesseln einmal fein gehackt oder gegart, können die Haare uns nichts mehr anhaben
„Kraftfutter“ aus den weiblichen Samen ab August, September – oder übers Jahr in der Drogerie erhältlich - enthalten Vitamin E, essenzielle Fettsäuren, Phytohormone (pflanzliche Hormone) und sind eine aromatische Stärkung bei Erschöpfung und Rekonvaleszenz, zudem fördern sie die Merk- und Konzentrationsfähigkeit. Geröstet über dem Salat oder aufs Butterbrot
Die Wurzel, im Oktober ausgegraben, enthält Phytosterole, welche in der Langzeitanwendung sich positiv auf eine gutartige, altersbedingte Prostatavergrösserung auswirken. Eine Freundin stellte für ihren Mann eine Tinktur her und er dankte es ihr, mit nächtlichem Durchschlafen
Diese Wirkung, loszulassen von alten Schlacken um Raum für Neues zu schaffen, zeigt sich auch im Wesen der Pflanze, in ihrer Signatur. Sie steht für Aggression, Wille, Selbstüberwindung, Blutreinigung und Eisen. Aggression kommt aus dem Lateinischen und heisst aggredi (=etwas angehen). Eine Aggression im positiven Sinne hilft uns, Hindernisse zu beseitigen, erstarrte Strukturen in Körper und Seele dynamisch aufbrechen, damit sich neue Aktivitäten entfalten können. Das macht uns die „Klimaschützerin“ auf wunderbare Weise vor mit ihrem Wirken im Ökosystem.
Der Verwendung in der Wildkräuterküche sind kaum Grenzen gesetzt: Brennnesselbutter, Frühlingskräuterpesto, als Wildgemüse, die gerösteten Samen auf dem Butterbrot, Brennnessel Chips oder ein schmackhaftes Brennnesselbrot.
Brennnesselbrötchen mit Kräuterfrischkäse
1 gute Hand voll junge Brennnesselspitzen
350 g Dinkelmehl
je 1 KL Salz und Zucker
Hefe (Frisch- oder Trockenhefe)
ein paar Brennnesselspitzen für die Dekoration zur Seite legen
Die Brennnesseln entweder ganz fein hacken oder über dem Dampf kurz garen. Dabei kann das Wasser für den Teig gleich mitverwendet werden.
Trockenzutaten mischen, Brennnesseln unterheben und mit lauwarmem Wasser zu einem geschmeidigen Brotteig kneten. An einem geschützten Ort, zugedeckt um das Doppelte gehen lassen.
Den Teig nochmals kurz durchkneten, Brötchen nach Belieben formen, Deko Brennnesseln anfeuchten und auf die Brötchen „kleben“, nochmals 30 Minuten gehen lassen.
Brötchen bei 200° je nach Grösse ungefähr 15 Minuten backen.
Für den Frischkäse Wildkräuter wie Brennnesseln, Giersch, Schafgarbe, Bärlauch, Wiesenschaumkraut ganz fein hacken und untermischen, einige Zitronen-Zesten dazu reiben, mit Salz, Pfeffer und Paprika abschmecken.
Es ist müssig zu erwähnen, dass mich diese Pflanze brennend interessiert. Seid mutig und setzt Euch für einmal mit einer haarsträubenden, aber ausserordentlich spannenden Pflanze auseinander. Sie wird Euch auf ungeahnt neue Ideen bringen!
Eure Odorata
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Erika Briggen (Mittwoch, 24 April 2019 21:42)
Hei was die Brennessel alles kann!!! Zum Essen mega ! Knusprig einfach Spitze. Brennt nicht.